BGH-Urteil | 2019: Grundsatzurteile zur ärztlichen Sterbebegleitung
Im Juli 2019 hat der Bundesgerichtshof (BGH) über zwei Fälle entschieden, in denen Ärzte aus Berlin und Hamburg Patientinnen in den selbstgewählten Tod begleitet haben. Beide Ärzte wurden vom Vorwurf der Tötung durch Unterlassen freigesprochen. Diese Urteile sind einerseits ein Sieg für das Selbstbestimmungsrecht von Patienten. Andererseits befürchten Kritiker, sie könnten zu einer „schleichenden Legalisierung des ärztlich begleiteten Suizids”1 führen und so die Gewissenskonflikte für Ärzte verschärfen.
In diesem Artikel enthalten
- Warum ist ärztlich assistierte Sterbehilfe solch ein sensibles Thema?
- Welche Grundsatzentscheidungen hat der BGH nun zur ärztlichen Sterbebegleitung gefällt?
- Befreundete Seniorinnen wendeten sich an Sterbehilfeverein
- Chronisch kranke Frau bittet nach mehrmaligem Suizidversuch um Unterstützung
- Zusammenfassung
- PRO: Mehr Klarheit, denn der Patientenwille sei ausschlaggebend
- CONTRA: Mehr Gewissenskonflikte, denn ein Anrecht auf ärztlich begleiteten Suizid könnte erwartet werden
- Warum liegen dem Bundesverfassungsgericht Beschwerden gegen das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe vor?
- Das BfArM darf Sterbehilfe-Medikamente nicht freigeben
- Einige Angehörige unterstützen ihre Liebsten beim Suizid
Warum ist ärztlich assistierte Sterbehilfe solch ein sensibles Thema?
Die Aufgabe jedes Arztes ist es, die Gesundheit seiner Patienten zu schützen und wiederherzustellen2. Zum Alltag gehört aber auch, dass jeder eines Tages an den Punkt kommt, an dem seine Gesundheit nicht wiederhergestellt werden kann. Daher hat die Bundesärztekammer auch geregelt, wie Ärzte mit Sterbenden umgehen sollen: „Der Arzt ist verpflichtet, Sterbenden […] so zu helfen, dass sie menschenwürdig sterben können”3.
Einen schnellen, schmerzfreien Tod im hohen Alter wünschen sich wohl die Meisten. Aber leider haben nicht alle Menschen ein solches Schicksal. Es gibt auch Patienten, die lange Zeit unter dem fortschreitenden Verfall ihres Körpers leiden müssen – sei er nun ausgelöst durch einen Unfall, eine schwere Krankheit oder bedingt durch den natürlichen Alterungsprozess. So kommt es auch vor, dass Menschen im selbstgewählten Tod den einzigen Ausweg sehen, um würdevoll Gehen zu können. Und manche wenden sich in ihrer Not an einen Arzt, damit er sie bei diesem Schritt unterstützt.
Solche Bitten aber bringen Ärzte teilweise in ein moralisches und auch rechtliches Dilemma. Denn, wenngleich Ärzte die Patienten bei einem würdevollen Sterben unterstützen und ihr Selbstbestimmungsrecht4 achten sollen, so gilt doch das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe in Deutschland: „Es werden Handlungen unter Strafe gestellt, mit denen einem anderen die Gelegenheit zur Selbsttötung geschäftsmäßig gewährt, verschafft oder vermittelt wird, wenn dies in der Absicht geschieht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern”5. „Geschäftsmäßig” bedeutet dabei nicht unbedingt, dass Geld mit der Sterbehilfe verdient wird. Vielmehr ist entscheidend, dass eine Handlung wiederholt durchgeführt wird. Betroffen von einer Strafandrohung können also Ärzte sein, die mehr als einmal einen Patienten beim Suizid unterstützen.
Welche Grundsatzentscheidungen hat der BGH nun zur ärztlichen Sterbebegleitung gefällt?
Im Juli 2019 hat der in Leipzig ansässige 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Fälle von zwei Ärzten verhandelt, die sich eben diesem Konflikt zwischen Todeswunsch des Patienten und Verbot der Sterbehilfe stellen mussten. Beide Ärzte hatten sich dafür entschieden, die zum Suizid entschlossenen Patientinnen aktiv zu unterstützen. Was genau war passiert?
Befreundete Seniorinnen wendeten sich an Sterbehilfeverein
Zwei Hamburgerinnen im Alter von 81 und 85 Jahren beschlossen im Jahr 2012, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Keine der beiden Patientinnen war lebensbedrohlich erkrankt, aber sie litten an vielfachen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und empfanden aufgrund dieser eine fortschreitende Abnahme ihrer Lebensqualität. Daher wandten sich die Freundinnen an den Verein „Sterbehilfe Deutschland”. Ein Arzt, der in jenem Verein Mitglied war6, prüfte im Rahmen eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens die Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Seniorinnen7. Nachdem die Prüfung positiv ausgefallen war, empfahl er ihnen ein Medikament, mit dem sie sich den Todeswunsch erfüllen konnten. Der Mediziner war dem Patientinnenwunsch entsprechend später auch anwesend, als die beiden Frauen das selbstbesorgte Medikament einnahmen und verstarben.
Chronisch kranke Frau bittet nach mehrmaligem Suizidversuch um Unterstützung
Im Berliner Fall aus dem Jahr 2013 war die Suizidwillige eine 44-jährige Patientin, die seit Jahrzehnten an einem starke Krämpfe verursachenden Syndrom litt. Neben körperlichen Schmerzen empfand sie stärkste seelische Belastungen: Die Frau ging nicht mehr aus dem Haus, wurde von Ängsten geplagt und litt unter dem krankheitsbedingten Zerbrechen ihrer Familie8. Nachdem sie bereits mehrere Suizidversuche unternommen hatte, aber immer wieder gegen ihren Willen gerettet wurde, wandte sie sich schließlich an einen Arzt. Er verschaffte ihr Zugang zu einem Medikament, das in hoher Dosierung tödlich wirkt. Anschließend begleitete er sie wunschgemäß bei ihrem mehrere Tage andauernden Sterbeprozess9.
Diese beiden Fälle ereigneten sich, bevor die „geschäftsmäßige Sterbehilfe” im Jahre 2015 verboten wurde. Dennoch mussten sich die Ärzte vor den jeweils zuständigen Landgerichten in Berlin und Hamburg in erster Instanz für ihre Taten verantworten. Beide wurden vom Vorwurf eines strafbaren Tötungsdeliktes freigesprochen.
Die Staatsanwaltschaft legte jedoch Revision ein und brachte die Fälle vor den Bundesgerichtshof. Dort wurde geprüft, ob die Ärzte sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht hatten, als sie keine lebensrettenden Maßnahmen für die Sterbenden einleiteten. Es gibt ein Urteil aus dem Jahr 1984, laut dem Ärzte „eine besondere Rechtspflicht zur Bewahrung des Lebens des Selbstmörders”10 haben, sobald dieser das Bewusstsein verloren hat.
In den vorliegenden Fällen hat das Gericht jedoch entschieden, dass der Todeswunsch der Frauen vorrangig war. Schließlich können Patienten auch im Rahmen einer Patientenverfügung ihr Selbstbestimmungsrecht frei ausüben und festlegen, was mit ihnen im Falle der Bewusstlosigkeit passieren soll und was nicht. Rettungsmaßnahmen hätten dem Wunsch der Frauen in beiden Fällen widersprochen und wären daher nicht angemessen gewesen. Somit wurden beide Ärzte auch vom BGH freigesprochen.
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Zusammenfassung:
Ärztliche Sterbebegleitung ist ein sensibles Thema: Einerseits sollen Ärzte ihren Patienten ein würdevolles Sterben ermöglichen. Andererseits ist die “geschäftsmäßige”, also die wiederholte Sterbehilfe von Ärzten verboten. In der Praxis führt das regelmäßig zu einem Dilemma.
Im Juli hat der BGH über die Fälle zweier Ärzte entschieden, die kranke Patientinnen beim selbstbestimmten Suizid unterstützt haben. Beide Ärzte wurden vom Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung freigesprochen. Begründung dafür war, dass die Frauen ihr Selbstbestimmungsrecht frei ausüben dürfen. Außerdem konnte das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe nicht auf besagte Fälle angewendet werden, da das Gesetz erst danach in Kraft trat. Diese Entscheidung hat stark polarisiert:
- Befürworter lobten die Stärkung des Selbstbestimmungsrechtes der Patienten und die größere Rechtssicherheit für Ärzte. Ein weiterer positiver Aspekt sei, dass Ärzte ihre Patienten beim selbstbestimmten Suizid nun nicht mehr allein lassen müssen – sie dürfen sie auch über den Bewusstseinsverlust hinaus begleiten.
- Kritiker wandten ein, dass es niemals zu den Aufgaben eines Arztes zählen könne, einen Menschen beim Suizid zu unterstützen. Außerdem seien die gesellschaftlichen Erwartungen, die durch das Urteil geweckt werden könnten, problematisch. Denn Patienten haben vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtslage keinen Anspruch auf ärztliche Begleitung beim Suizid.
Aufgrund des geltenden Verbots der geschäftsmäßigen Sterbehilfe hat das Bundesgesundheitsministerium auch das BfArM angewiesen, Anträge auf Suizid-Medikamente pauschal abzulehnen. Infolgedessen leisten manche Angehörige ihren Liebsten mit teils inadäquaten Mitteln Sterbehilfe. Vor diesem Hintergrund sind zahlreiche Beschwerden gegen das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe beim Bundesverfassungsgericht eingegangen. Über diese Beschwerden soll im Herbst 2019 entschieden werden. Eine umfassende Reform der geltenden Regelungen könnte die Folge sein.
Ein Beitrag von
Janine Kaczmarzik
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
M.A. Germanistik / Schwerpunkt Sprachwissenschaft. Expertin für Leichte Sprache.
Informiert unsere Kunden und die Öffentlichkeit über wichtige Fragen der Gesundheitsvorsorge und Patientenautonomie.
Zitate und Quellen
Zitate:
1 Rudolf Henke im Deutschen Ärzteblatt vom 04.07.2019
2 vgl. BÄK 2019: A2
3 BÄK 2011: A 347
4 vgl. BMG 2019
5 BÄK 2017: A334
6 Hamburger Morgenpost vom 3. Juli 2019
7 Deutsches Ärzteblatt vom 3. Juli 2019
8 vgl. Berliner Zeitung vom 3. Juli 2019
9 vgl. Deutsches Ärzteblatt vom 3. Juli 2019
10 Spiegel Online vom 9. Juli 1984
11 vgl. Mudra 2019
12 Christiane Woopen im Deutschen Ärzteblatt vom 04.07.2019
13 Deutsches Ärzteblatt vom 4. Juli 2019
14 Deutsches Ärzteblatt vom 3. Juli 2019
15 Deutsches Ärzteblatt vom 4. Juli 2019
16 vgl. Pedram Emami im Deutschen Ärzteblatt vom 3. Juli 2019
17 Parth 2019
18 Bayerischer Rundfunk am 26. Juli 2019
19 Deutsches Ärzteblatt vom 5. Juli 2019
20 Deutsches Ärzteblatt vom 1. Juli 2019
21 Deutsches Ärzteblatt vom 3. Juli 2019
Quellen:
Bayerischer Rundfunk (26.07.2019): Bewährungsstrafe im Prozess um Sterbehilfe in Regensburg.
Aktualisierungshinweis: Zwischenzeitlich ist der Artikel nicht mehr abrufbar
Berliner Zeitung (03.07.2019): Tödliche Tablettendosis. Berliner Arzt hilft Patientin beim Suizid- BGH-Urteil. URL: https://www.berliner-zeitung.de/berlin/polizei/toedliche-tablettendosis-berliner-arzt-hilft-patientin-beim-suizid—bgh-urteil-32796936 (geprüft am 8. August 2019).
Bundesärztekammer: (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997 -*) in der Fassung der Beschlüsse des 124. Deutschen Ärztetages 2021 in Berlin. URL: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/Recht/_Bek_BAEK_MBO-AE_Online_final.pdf.
Bundesärztekammer (2011): Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. URL: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/Sterbebegleitung_17022011.pdf (geprüft am 8. August 2019).
Bundesärztekammer (2017): Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB): Hinweise und Erläuterungen für die ärztliche Praxis*. URL: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Recht/Hinweise_Verbot_geschaeftsmaessige_Foerderung_Selbsttoetung.pdf (geprüft am 8. August 2019).
Bundesministerium für Gesundheit (2019): Patientenrechte. URL: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/patientenrechte/patientenrechte.html (geprüft am 8. August 2019).
Deutsches Ärzteblatt (01.07.2019): Ärzte erwarten Grundsatzentscheidung zu Sterbebegleitung. URL: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/104283/Aerzte-erwarten-Grundsatzentscheidung-zu-Sterbebegleitung?rt=9f8465d3136666b06544d857f303eb2f (geprüft am 8. August 2019).
Deutsches Ärzteblatt (03.07.2019): Ärzte müssen sterbewillige Menschen nicht gegen deren Willen retten. URL: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/104354/Aerzte-muessen-sterbewillige-Menschen-nicht-gegen-deren-Willen-retten?rt=9f8465d3136666b06544d857f303eb2f (geprüft am 8. August 2019).
Deutsches Ärzteblatt (04.07.2019): Urteil zu Sterbehilfe ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. URL: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/104386/Urteil-zu-Sterbehilfe-ruft-unterschiedliche-Reaktionen-hervor?rt=9f8465d3136666b06544d857f303eb2f (geprüft am 8. August 2019)
Deutsches Ärzteblatt (05.07.2019): 67 Prozent der Bundesbürger für aktive Sterbehilfe. URL: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/104419/67-Prozent-der-Bundesbuerger-fuer-aktive-Sterbehilfe?rt=9f8465d3136666b06544d857f303eb2f (geprüft am 8. August 2019).
Mudra, Kai (24.07.2019): Aktive Sterbehilfe bleibt in Thüringer Kliniken vorerst verboten. In: Thüringer Allgemeine. URL: https://www.thueringer-allgemeine.de/leben/gesundheit-medizin/aktive-sterbehilfe-bleibt-in-thueringer-kliniken-vorerst-verboten-id226571235.html (geprüft am 8. August 2019).
Parth, Christian (28.07.2019): Streit über Sterbehilfe. Tödliches Mittel nur “im extremen Einzelfall”. In: Spiegel Online. URL: https://www.spiegel.de/panorama/sterbehilfe-bei-todkranken-im-extremen-einzelfall-a-1277361.html (geprüft am 8. August 2019).
Spiegel Online (09.07.2019): Sterbehilfe. Letzter Wille. Darf ein Arzt einen lebensmüden Patienten sterben lassen? URL: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13508489.html (geprüft am 8. August 2019).