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Sterben ab heute erlaubt – aber nur im „Extremfall“

Ab heute darf man sterben, aber nur im „Extremfall“. Sogenannte Patientenschützer sind empört. Kommentar zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes.

Viele Jahre hat es gedauert. Nun endlich hat das höchste Deutsche Verwaltungsgericht entschieden: In „extremen Ausnahmesituationen“ hat ein leidender Patient ein Recht darauf, Substanzen zur Selbsttötung zu erwerben. Diese Tatsache folge aus dem Grundgesetz, stellte das Bundesverwaltungsgericht fest (BVerwG 3 C 19.15). Bedingung solle dabei sein, dass die betroffenen Patienten „wegen ihrer unerträglichen Lebenssituation frei und ernsthaft entschieden haben, ihr Leben beenden zu wollen“ und dass es keine palliativmedizinischen Alternativen gebe.

Als praktisch tätiger Arzt kann man jetzt nur zwei Dinge tun: Sich die Augen reiben und den Kopf schütteln. Das erste, weil es einmal wieder viel zu viele Jahre gedauert hat, bis die Bürokratie die Realität zur Kenntnis genommen hat: Es gibt Patientinnen und Patienten, denen die Medizin nicht mehr helfen kann und die deshalb unerträglich leiden. Auch die so gute und wichtige Palliativmedizin hat ihre Grenzen und wo diese erreicht sind, beginnt die Hölle auf Erden. Es ist schwer zu ertragen, aber ja: Noch im Jahr 2017 gibt es medizinische Situationen, in denen der Tod auch aus ärztlicher Sicht manchen Patienten lieber sein kann, als das Weiterleben. In diesen Situationen können Ärzte und Medikamente keine andere Hilfe mehr bieten als die zum Sterben. Mehrere Vorinstanzen hatten diese Tatsache nicht einsehen wollen, darunter auch das Bundesverfassungsgericht. Erst das Einschreiten des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte führte nun zum korrigierenden Urteil des höchsten Deutschen Verwaltungsgerichts. Die eigentlich betroffene Patientin war inzwischen seit Jahren tot. So weit, so brutal.

Patientenschutz als Etikettenschwindel

Was allerdings noch schwerer zu ertragen ist, ist der Aufschrei einer besonderen Gruppe sogenannter Patientenschützer gegen das überfällige Urteil aus Leipzig. Sowohl tagesschau.de und Spiegel Online berichten, dass die sogenannte „Deutsche Stiftung Patientenschutz“ die Entscheidung umgehend als „praxisfern“ kritisiert hat. Laut den selbsternannten Patientenschützern sei „weder objektiv messbar noch juristisch allgemeingültig zu definieren“, was unerträgliches Leiden sei. Dies „bleibe offen“, so Stiftungsvorstand Eugen Brysch.

Die „Deutsche Stiftung Patientenschutz“ ist eine christliche Organisation. Sie setzt sich seit langem energisch gegen alles ein, was im Zusammenhang mit einer Duldung von Selbsttötung und Sterbehilfe steht. Dieses Recht kommt ihr selbstverständlich zu. Egal ob aus religiösen oder sonstigen Gründen: Jeder hat das Recht, Selbsttötung ganz grundsätzlich abzulehnen. Die eigene Weltanschauung in höchst privaten Dingen aber zu einem absoluten Verbot für andere zu erheben, ist schon im Ansatz problematisch. Gänzlich unerträglich wird diese Überheblichkeit, wenn Sie auch noch unter Vorwand des an sich völlig konfessionslosen Wertes Patientenschutzes daherkommt. Wovor bitte schön könnte diese Stiftung mittels ihrer ideologischen Verbote einen Patienten schützen? Doch nur in ihrer eigenen Weltsicht „vor sich selbst“. In der Welt des Herrn Brysch muss noch ein Medizin- und Rechtsverständnis existieren, in dem die Würde und persönliche Freiheit des Einzelnen der Deutungshoheit selbst ernannter und im Zweifel völlig illegitimer Autoritäten untergeordnet ist. Damit wären wir beim Kopf schütteln.

Wer, kann man sich als Arzt nur fragen, verbietet Menschen wie Herrn Brysch endlich, sich Patientenschützer zu nennen und unter einem scheinamtlichen Stiftungsnamen gleich im Namen eines ganzen Landes sprechen zu wollen? Wer bitte packt ihn und zerrt ihn, ehe er noch ein weiteres Mal in ähnlich abgründiger Weise den Mund aufmacht, von seinem Schreibtisch in die Praxis? An die Betten der Sterbenden, die an ihrem eigenen Blut ersticken? Wer zwingt ihn, endlich denen ins schmerzverzerrte Gesicht zu schauen, denen seine Worte ein Schlag eben genau dorthin sein müssen? Was unerträgliches Leiden ist, Herr Brysch, daran würde ein solcher Ausflug jeden Rests angeblichen Zweifels beseitigen.

Aber niemandem kann verboten werden, gegen Vernunft und Menschlichkeit anzureden. Also werden die Ideologen genau das weiter machen – ohne jede Gnade. Dabei missbrauchen sie das Wort Patientenschutz für ihre Lobbyarbeit zur Durchsetzung ihrer weltanschaulichen Ziele. Sie werden weiter machen, bis sie eines Tages vielleicht selbst erfahren, was Bundesrichter Thomas Fischer unlängst wortgewaltig zusammenfasste: „Die paternalistische Verwaltung des Sterbens und die gnadenlose strafrechtliche Verdrängung des Suizids in den Bereich der Illegalität, der Depression und der erschreckenden Gewalt bewirken nicht einen Schutz des Lebens, sondern dessen Verhöhnung. Sie degradieren das angeblich überragende Selbstbestimmungsrecht des Menschen zu einem angenehmen Privileg der Starken. („Vom Leben und vom Tod“. ZEIT Online vom 28.2.2017).

Damit hat Fischer alles gesagt: Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten hat jeder Ideologie anderer vorzugehen, gerade wenn es um die letzten Dinge geht. Das verlangt die Würde des Patienten. Das Bundesverwaltungsgericht hat dieser Würde und damit dem tatsächlichen Patientenschutz einen großen Dienst erwiesen.

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Paul Brandenburg bei DIPAT Die Patientenverfügung

Ein Beitrag von

Paul Brandenburg

Gründer und Geschäftsführer

Medizinstudium in Berlin und Japan. Forschung und Veröffentlichungen mit mehreren Preisen. Promotion an der Charité mit Auszeichnung durch die wissenschaftliche Fachgesellschaft. Ärztliche Ausbildung an Universitätskliniken in Deutschland und der Schweiz.

Als Facharzt seit 2011 deutschlandweit und international in der Notfall- und Intensivmedizin tätig. KulturSPIEGEL-Bestsellerautor und Publizist zum Gesundheitssystem. Regelmäßiger Gesprächspartner von Medien und Politik.