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Künstliche Ernährung per Magensonde: warum die Patientenverfügung entscheidend ist

Beispiel eines Mannes, der 6 Jahre durch die Hölle geht

Ein bettlägeriger Patient musste sechs Jahre grausam leiden. Nun wurde der Arzt verklagt. Ein Sieg für den Patientenschutz?

Wie die ZEIT berichtet, hat ein Hausarzt einen schwer Demenzkranken durch Ernährung per Magensonde sechs Jahre am Leben gehalten („Sinnlos gelitten“, ZEIT Online 16.2.2017). Die sechs Jahre über lag der Mann nur noch regungslos im Bett und habe weder sprechen noch am Leben teilhaben können. Nun sagt der Sohn des Patienten, sein Vater habe solche Behandlung nie gewollt und durch sie nur sinnlos gelitten. Vom Arzt verlangt er deshalb 150.000 EUR Schmerzensgeld. Der renommierte Patientenanwalt Putz bezeichnet das kürzlich gesprochene Urteil über den Fall als „Meilenstein“ der Rechtsgeschichte (AZ 9 O 5246/14). Was ist davon zu halten?

Fallbeispiel: Demenz, Bettlägerigkeit und künstliche Ernährung über Jahre

Körperliche Fixierung führte zu bleibender Bewegungsunfähigkeit. Die Folge: Eine Magensonde

Im vorliegenden Fall litt Patient Heinrich S. offenbar seit 1996 unter anderem an Demenz und chronischen Schmerzen. Seit 2003 sprach er nicht mehr und wurde im Pflegeheim im Bett „fixiert“ – also festgebunden. Eine problematische Maßnahme, die Heime dann ergreifen, wenn ein Patient aus ihrer Sicht nicht mehr anders vor sich selbst zu schützen sei. 2006 schließlich ist Heinrich S. laut Zeitungsbericht durch die ständige Bewegungsunfähigkeit in seiner Muskulatur so versteift, dass die Fixierung nicht mehr erforderlich ist. Wie viele Patienten in dieser Lage kann er nicht mehr anders ernährt werden, als durch eine PEG-Sonde, einen dünnen Plastikschlauch, der in den Magen eingelegt wird. Es folgt die leider übliche endlose Tortur von Patienten in solchem Zustand: Ständige Lungenentzündungen, ständige Krankenhauseinlieferungen und ein sich ewig hinziehender Prozess des Sterbens. Die Hölle auf Erden. 2011 schließlich verstirbt Heinrich S. Der Palliativmediziner Borasio bezeichnet sein Schicksal als „grausam“. Dem kann man nur zustimmen.

Künstliche Ernährung am Lebensende: kein Einzelfall

In Altenheimen gehen hunderte Menschen in diesem Augenblick durch die gleiche Hölle

Die eigentliche Grausamkeit aber besteht darin, dass dieses Schicksal in Deutschland normal ist. In den Altenheimen und den Krankenhäusern der Republik gehen in diesem Augenblick hunderte Menschen durch die gleiche Hölle; mit dem Wissen und dem Zutun der behandelnden Ärzte. Die ZEIT sieht einen Grund darin, dass „die künstliche Ernährung durch Magensonde ein Milliardengeschäft“ ist. Dieser Verdacht ist schwer von der Hand zu weisen und er macht wütend. (DIPAT hatte bereits vor einigen Tagen von einem ähnlich Schicksal berichtet.) Der Hausarzt des Heinrich S. erscheint hier im ersten Augenblick als Komplize einer Gesundheitsindustrie, die ohne jedes Gewissen allein den Profit sucht. So klar allerdings ist die Lage nicht. Kein Arzt darf sich zum Richter über Leben und Tod aufschwingen. Es steht uns Ärzten nicht zu, unsere eigenen Vorstellungen über die „Lebenswürdigkeit“ eines Zustandes an die Stelle des Patientenwunsches zu setzen. Dieses Verbot gilt absolut – im Guten wie im Schlechten. Hier sind sich Ärzte und Gerichte einig und es ist durchaus anzunehmen, dass auch der Hausarzt des Heinrich S. diesem Berufsgrundsatz gefolgt ist. Allein, den Wunsch seines Patienten konnte der Hausarzt im vorliegenden Fall gar nicht kennen.

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Das Urteil des Landgerichts München

Nur eine wirksame Patientenverfügung hätte viel Leid verhindert

Das Gericht hat die Klage gegen den Hausarzt auf Haftung und Schmerzensgeld schließlich abgewiesen1. Aus allen erkennbaren Gründen völlig zu Recht. Dennoch hat das Gericht festgestellt, der Hausarzt habe einen Behandlungsfehler begangen, weil er die Einschätzung der Angehörigen des Heinrich S. nicht rechtzeitig eingeholt habe. Aus Sicht eines praktisch tätigen Arztes ist diese feine Dialektik der Juristen ein Hohn. Es soll also an den Ärzten sein, desinteressierte Angehörige, die sich von ihren leidenden Verwandten abgewandt haben, aufzuspüren und diese um deren Einschätzung zum Willen eines Menschen einzuholen, zu dem sie offenkundig keine Beziehung mehr pflegen? Eine absurde Vorstellung. Und selbst wenn der Hausarzt im vorliegenden Fall den Willen des Sohnes früher eingeholt hätte, was wäre der Erfolg gewesen? Der Wille des Sohnes hätte wohl immer noch im Widerspruch zur Entscheidung des Betreuers gestanden. Henrich S. hätte all das nicht geholfen. Das Dilemma des Hausarztes und die Hölle des Patienten hätten fortbestanden. Das Urteil des Gerichtes ist insofern höchst fragwürdig und zeigt vor allem zwei Dinge: die Realitätsfern und Mutlosigkeit der Rechtsprechung. Zur Verbesserung der Durchsetzung des tatsächlichen Patientenwillens hat sie nicht beigetragen. An solcher Verbesserung freilich bestünde großer Bedarf.  Bleibt wie so oft nur ein Fazit: Eine wirksame Patientenverfügung hätte all das wohl verhindern können. Ohne Patientenverfügung können die Folgen für Patienten sowie Angehörige jahrelanges Leid bedeuten.

 

Paul Brandenburg bei DIPAT Die Patientenverfügung

Ein Beitrag von

Paul Brandenburg

Gründer und Geschäftsführer

Medizinstudium in Berlin und Japan. Forschung und Veröffentlichungen mit mehreren Preisen. Promotion an der Charité mit Auszeichnung durch die wissenschaftliche Fachgesellschaft. Ärztliche Ausbildung an Universitätskliniken in Deutschland und der Schweiz.

Als Facharzt seit 2011 deutschlandweit und international in der Notfall- und Intensivmedizin tätig. KulturSPIEGEL-Bestsellerautor und Publizist zum Gesundheitssystem. Regelmäßiger Gesprächspartner von Medien und Politik.

Zitate und Quellen

1 LG München I, Endurteil vom 18.01.2017 - 9 O 5246/14 https://openjur.de/u/950376.html