Warum ist Deutschland Schlusslicht bei der Digitalisierung der Medizin?
Um einen Blick hinter die Kulissen dieser Mischung aus Behörden, Beschlüssen und Befindlichkeiten zu werfen, wollen wir die folgenden Fragen beantworten:
Warum soll die Medizin eigentlich digital werden?
Die landläufige Phrase “Digital – ganz normal” bringt es auf den Punkt: Das Internet – und damit der schnelle und unkomplizierte Zugriff auf Informationen aller Art – ist für die meisten Menschen selbstverständlicher Teil des Lebens. Vor diesem Hintergrund bedeutet „Digitalisierung”, dass Informationen nicht nur besser gesammelt und gespeichert werden können, sondern dass sie auch durch Maschinen (z.B. spezielle Computerprogramme) auswertbar und automatisch bearbeitbar werden – was durch die statistische Auswertung der riesigen Menge an Gesundheitsdaten wiederum neue Informationen erzeugt.
Die neuen technischen Möglichkeiten verändern alle Lebensbereiche und das wirkt sich auch auf die Medizin aus. Eine Gesundheitsbranche, die Digitalisierung nutzt, profitiert zum Beispiel von:
- digitaler Spracherfassung, um Arzt-Patienten-Gespräche automatisch zu dokumentieren3,
- medizinischen Computerprogrammen, um Patientendaten zu analysieren (So gibt es beispielsweise eine Künstliche Intelligenz für Röntgenuntersuchungen, die „in einem Feldversuch mit 500 Mammografien Brustkrebs 30 Mal schneller als Ärzte erkannte. Die Trefferquote lag bei 99 %.”4),
- Robotern, um Ärzte bei Operationen zu unterstützen5,
- elektronischen Gesundheitsakten, um Patienten und Behandelnde besser zu vernetzen.
Allein die Speicherung aller Patientendaten an einem zentralen Ort – wie der elektronischen Gesundheitsakte – hat die folgenden Vorteile:
- Die Patienten haben einen besseren Zugang zu ihren medizinisch wichtigen “Daten über Befunde, Diagnosen, Therapiemaßnahmen, Behandlungsberichte oder Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen”6. Da sie auch entscheiden, welcher Behandelnde welche Daten sehen darf, haben sie zudem die Souveränität über ihre Daten.
- Geben die Patienten ihren medizinischen Leistungserbringern (also zum Beispiel ihrem Hausarzt, ihrem Orthopäden oder ihrem Physiotherapeuten) die Daten frei, können diese untereinander besser zusammenarbeiten.
- Durch den schnelleren Austausch und die bessere Kommunikation haben die Ärzte zudem mehr Zeit für ihre Patienten.
- Die bessere Vernetzung von Kliniken führt außerdem dazu, dass Experten – zum Beispiel aus einer Spezialklinik oder aus dem Ausland – schneller und einfacher kontaktiert und um Rat gefragt werden können.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass digitale Anwendungen sowohl Patienten als auch Behandelnden das Leben deutlich erleichtern können. Ein besonderer Mehrwert ist, dass Patienten viel bessere Möglichkeiten bekommen, sich selbstständig über ihren Gesundheitszustand zu informieren. „Medizinprodukte und Services ohne digitale Komponenten dürften [daher] künftig eher die Ausnahme als die Regel sein“, so Jörg Mayer, Geschäftsführer des Industrieverbands Spectaris.7
Die Vorteile der Digitalisierung können allerdings nur unter der Bedingung greifen, dass denn auch die nötigen technischen und organisatorischen Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Und hier gehen die Probleme los.
Welche Probleme gibt es bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens?
Die Einführung und flächendeckende Anwendung von digitalen Möglichkeiten in der Medizin ist ein wahres Mammut-Projekt, das an vielen Stellen anfällig für Störungen ist. Allein die Frage danach, wie Patientendaten wirksam geschützt werden können, wartet noch darauf, zufriedenstellend beantwortet zu werden. Im Folgenden werden daher exemplarisch zwei bedeutende Problemherde betrachtet:
Das Telematik-Theater: Wie ist der aktuelle Stand bei der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte?
Die Gematik – Gesellschaft für die Telematikanwendung der Gesundheitskarte wurde 2005 von den wichtigsten Verbänden des deutschen Gesundheitswesens gegründet. Ihr Ziel ist es, die elektronische Gesundheitskarte für Patienten und Behandelnde nutzbar zu machen. Um dieses Vorhaben umzusetzen, muss die Gematik8
- verschiedene technische und organisatorische Voraussetzungen für den Datenaustausch festlegen (z.B. Was für Daten sollen in welcher Form ausgetauscht werden können?),
- konkrete Anbieter für technische Geräte zum Datenaustausch testen und zulassen.
Probleme bei der Umsetzung dieses Projektes entstehen dadurch, dass sich die verschiedenen Lobbygruppen innerhalb der Gematik gegenseitig blockieren. Entscheidungen können so nur sehr schwerfällig getroffen werden. Das zieht auch eine Reihe von Folgeproblemen nach sich, die von der Siemens-Betriebskrankenkasse9 festgehalten wurden:
- Das gegenwärtige Konzept für die elektronische Gesundheitskarte ist nicht genügend auf die Bedürfnisse der Nutzer abgestimmt. Das wird z.B. daran deutlich, dass der Zugriff auf Patientendaten über das Smartphone bei der Entwicklung der Systeme nur eine untergeordnete Rolle spielt.
- Die Zulassungsverfahren für Geräte, die für die technische Nutzung der elektronischen Patientenakte gebraucht werden, sind sehr kompliziert. So müssen z.B. Geräte für jedes Betriebssystem wie Windows, Mac oder Android einzeln zugelassen werden.
- Deutschland möchte sich den internationalen Vorgaben der Initiative Integrating the Healthcare Enterprise (IHE) nicht anschließen. Es soll eine deutsche Sonderlösung geben, die erst umständlich auf die internationale Anwendung abgestimmt werden muss, um z.B. Experten aus dem Ausland befragen zu können.
Diese Situation hat dazu geführt, dass das Bundesgesundheitsministerium (BMG) mit 51% Anteile der größte Gesellschafter der Gematik werden möchte. Ziel des BMG ist es, dadurch die Einführung des Gesundheitsdatennetzes zu beschleunigen.
Die Bundesärztekammer hatte diese Entwicklung jedoch in einer Stellungnahme vom Februar 2019 eindeutig abgelehnt10. Grund dafür ist, dass in Deutschland eigentlich das Prinzip der Selbstverwaltung im medizinischen Sektor gilt. Das bedeutet, dass der Staat nur die gesetzlichen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen vorgibt, die medizinische Versorgung der Bevölkerung jedoch von Verbänden der Leistungserbringer (z.B. Ärzte, Zahnärzte, Kliniken) und Patienten (z.B. private und gesetzliche Krankenkassen) selbst organisiert wird11. Greift der Staat in den Plan der Gematik ein, befürchtet die Bundesärztekammer weitere Verzögerungen anstelle von Beschleunigung. Ob und wenn ja, was der Vorstoß des Gesundheitsministers in der Praxis bringt, kann also nur die Zeit zeigen.
Die Startup-Sperre: Auf welche Hindernisse treffen digitale Startups im medizinischen Bereich?
Neben der Tatsache, dass das die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und damit des grundlegenden Gesundheitsdaten-Netzwerkes nur schleppend vorangeht, ist auch eine allgemeine Innovationsträgheit im Deutschen Gesundheitssystem zu beklagen. Das geht schon damit los, „dass Deutschland an den globalen Investitionen zur Entwicklung von KI [Künstlicher Intelligenz] und digitalen Instrumenten für den Gesundheitsmarkt mit nur einem mehr als bescheidenen halben Prozent beteiligt ist”.12
Diese beschämend geringe Förderung von neuen Entwicklungen verhindert glücklicherweise nicht, dass sich immer wieder Startups gründen, die frische Ideen zur Verbesserung der medizinischen Praxis auf den Markt bringen wollen. Oftmals versperren dafür aber die eingerosteten Strukturen im Gesundheitssystem den Weg aus der Ideenschmiede auf den ersten Gesundheitsmarkt:
- Viele Ärzte sind ausgesprochen skeptisch gegenüber digitalen Gesundheitsanwendungen. Das Bewusstsein, dass eHealth-Produkte keine Existenzbedrohung, sondern vielmehr eine Erleichterung der Arbeit zum Wohle der Patienten darstellen sollen, ist hier noch nicht ausreichend vorhanden.
- Neue und innovative Ideen werden von den gesetzlichen Krankenkassen nicht finanziert. Das macht den Markteintritt für Startups extrem schwierig. Daher resümiert Dr. med. Paul Brandenburg, Gründer von DIPAT Die Patientenverfügung GmbH: „Wir haben in Deutschland praktisch eine totale Blockade des ersten Gesundheitsmarktes für Startups”.13
- Diese Rahmenbedingungen führen dazu, dass talentierte Nachwuchskräfte aus Fachbereichen wie Medizin oder Informatik nur selten einen Weg in junge Wirtschaftsunternehmen finden. Stattdessen arbeiten sie häufig bei etablierten Unternehmen und in der Forschung.
Was muss sich ändern, damit die Digitalisierung der Medizin doch noch gelingt?
Der Ruf der Deutschen, pünktlich, ordentlich und gut organisiert zu sein, ist nicht erst seit dem Bau des BER ramponiert. Durch das Drama um die schleppende Digitalisierung der Medizin und die vielfältigen Hürden für medizinische Startups ist Deutschland auf dem besten Weg, diese unrühmliche Geschichte fortzuschreiben.
Glücklicherweise aber ist das keine zwingende Folge. Wenn auch die Ambition, eine international führende Rolle in der eHealth-Branche einzunehmen, gegenwärtig unrealistisch ist, hat das deutsche Gesundheitswesen doch die Chance, noch auf den Zug der Digitalisierung aufzuspringen. Dafür aber muss sich an vielen Stellen Grundsätzliches ändern:
Das muss der Staat leisten:
- Voraussetzung für die zielführende Organisation der digitalen Wende in der Medizin ist eine hohe Fachkompetenz in Sachen eHealth und Internetindustrie auf Seiten der Entscheidungsträger. Hier gibt es in der Politik einigen Nachholbedarf.
- Auf Basis dieses fundierten Fachwissens sollte eine taugliche nationale eHealth-Strategie und ein Konzept zur Datensicherheit erarbeitet werden.14
- Über diese Konzepte sollten auch die künftigen Nutzer der digitalen Medizin – also alle Patienten und Behandelnde – umfangreich aufgeklärt werden.15
- Die Infrastruktur von Fest- und Funknetzen muss soweit ausgebaut werden, dass die digitale Datenflut realistisch bewältigt werden kann.
- Neue Produkte und Dienstleistungen im Bereich digitale Medizin sollten schneller und einfacher zugelassen werden.16
- Es muss erheblich mehr Geld in die Digitalisierung von Kliniken und Arztpraxen fließen.
- Neuen Innovationen sollte der Eintritt auf den ersten Gesundheitsmarkt erleichtert werden.
Das muss sich in der Selbstverwaltung des Gesundheitssystems ändern:
- Ganz grundsätzlich braucht es eine bessere Zusammenarbeit zwischen den etablierten Selbstverwaltungsorganen im Gesundheitssystem (z.B. der Bundesärztekammer und der Deutschen Krankenhausgesellschaft e.V.) und den eHealth-Startups. Das setzt voraus, dass die Funktionäre ein neues Verständnis von digitalen Anwendungen entwickeln: Neue Produkte und Dienstleistungen sind nicht als Konkurrenz, sondern als Entlastung für die Behandelnden zum Wohle aller Beteiligten gedacht.
- Auf diesem neuen Bewusstsein aufbauend, sind die Führungskräfte gefragt, „die Mitarbeiter für den digitalen Changeprozess zu begeistern und alle Mitarbeiter aktiv einzubinden”17. Hier ist es wichtig, dass das medizinische Personal den Umgang mit neuen Anwendungen trainieren, um im Alltag einfacher damit arbeiten zu können. Eine Anleitung von anderen Ärzten ist dabei besonders empfehlenswert.18
Das müssen Gründer von eHealth-Startups leisten:
- Wenn die Zusammenarbeit zwischen dem etablierten Gesundheitssystem und den eHealth-Startups besser werden soll, sind selbstverständlich auch die Gründer gefragt. An ihnen ist es, ihre innovativen Ideen selbstbewusst zu vertreten, aber auch Schwierigkeiten im Prozess des Markteintritts klar zu benennen – denn nur dann kann Problemen der Nachdruck verliehen werden, den es heutzutage leider braucht, um praxistaugliche Lösungen anzustoßen.
- Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Ärzte stärker in die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen mit eingebunden werden sollten. Gegenwärtig werden digitale Produkte allzu oft als umständliche Zeitfresser wahrgenommen, die den persönlichen Umgang mit den Patienten nicht erleichtern, sonder erschweren19. Das führt unter den Behandelnden zu Stress und Frust und kann im schlimmsten Fall das Risiko für Burnout erhöhen. Daher sollten Gründer von eHealth-Startups unbedingt von selbst den Austausch mit medizinischem Personal suchen, um neue Produkte optimal auf dessen Bedürfnisse abzustimmen.

Ein Beitrag von
Janine Kaczmarzik
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
M.A. Germanistik / Schwerpunkt Sprachwissenschaft. Expertin für Leichte Sprache.
Informiert unsere Kunden und die Öffentlichkeit über wichtige Fragen der Gesundheitsvorsorge und Patientenautonomie.
Zitate und Quellen
Zitate:
- SBK 2019
- vgl. Bertelsmann Stiftung 2018
- Schmitt-Sausen 2019: 518
- Loncaric 2018
- Deutsches Ärzteblatt 2019
- SBK 2019
- Deutsches Ärzteblatt 2018
- vgl. Wikipedia 2019
- vgl. SBK 2019
- vgl. BÄK 2019
- vgl. BMG 2019
- Maibach-Nagel 2019: 497
- Brandenburg in Kindler 2019
- vgl. Roland Berger GmbH u.a. 2018: 40
- Maibach-Nagel 2019: 497
- vgl. Roland Berger GmbH u.a. 2018: 41
- Deutsches Ärzteblatt 2019
- Taylor Davis in Schmitt-Sausen 2019: 517
- Schmitt-Sausen 2019: 517
Quellen:
- Bertelsmann Stiftung (2018): Digitale Gesundheit: Deutschland hinkt hinterher.URL: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/99014/Digital-Health-kommt-in-Deutschland-laut-Industriestudie-nur-schleppend-voran (geprüft am 3. April 2019)
- Deutsches Ärzteblatt [Hrsg.] (2019): Digitalisierung erfordert Investition in digitale Aus- und Weiterbildung. URL: https://www.youtube.com/watch?v=yfeYDTNXH4E (am 3. April 2019 noch nicht veröffentlicht)
- Loncaric, Zeljko (2018): Embedded Computer: Künstliche Intelligenz für bessere Befundung. URL: https://www.spectaris.de/fileadmin/Infothek/Medizintechnik/Gesundheit_4.0_Digitalisierung_der_Gesundheitswirtschaft.pdf (geprüft am 3. April 2019)
- Schmitt-Sausen, Nora (2019): Digitale Medizin. Ärzte müssen eingebunden werden. In: Deutsches Ärzteblatt, Jahrgang 116, Heft 13/2019.
- Siemens-Betriebskankenkasse (SBK) (2019): Worum geht es eigentlich in der gematik-Kritik? Einblicke in die Diskussion. URL: