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BGH-Urteil | 2019: Gibt es Schadensersatz bei unerwünschter Lebenserhaltung?

Ein weiteres Grundsatzurteil zum Leid am Lebensende. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat entschieden: „Leben kann kein Schaden sein“, auch dann nicht, wenn es für den betroffenen Patienten möglicherweise eine Qual war. Denn, so der BGH: Auch wenn ein Patient selbst sein Leben als lebensunwert erachtet – die Verfassungsordnung verbietet aller staatlichen Gewalt, das Leben als Schaden zu beurteilen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Entscheidungen des Gerichts ist diese weder klug noch mutig. Es lässt die Betroffenen im Stich. Indirekt gibt der BGH aber einen wichtigen Hinweis, wie Patienten sich vor unerwünschten Behandlungen schützen können: Mit einer rechtzeitig erstellten Patientenverfügung.

Das Urteil des BGH stammt vom 2. April 2019 (Az. VI ZR 13/18). Geklagt hatte der Sohn des Patienten. Auf 40.000 Euro Schmerzensgeld und Schadensersatz „aus ererbtem Recht“ des verstorbenen Vaters.1 Wie die Presse schreibt, wollte der in den USA lebende Sohn auf diese Weise eine öffentliche Debatte anstoßen.2 Folgendes war laut Veröffentlichung des Gerichts geschehen:

Der 1929 geborene Vater des Klägers (Patient) litt an fortgeschrittener Demenz. Er war bewegungs- und kommunikationsunfähig. In den letzten beiden Jahren seines Lebens kamen Lungenentzündungen und eine Gallenblasenentzündung hinzu. Im Oktober 2011 verstarb er. Der Patient wurde von September 2006 bis zu seinem Tod mittels einer PEG-Magensonde künstlich ernährt. […]

Der Kläger [Sohn; Anmerkung des Verfassers] macht geltend, die künstliche Ernährung habe spätestens seit Anfang 2010 nur noch zu einer sinnlosen Verlängerung des krankheitsbedingten Leidens des Patienten geführt. Der Beklagte [Hausarzt des Vater; Anmerkung des Verfassers] sei daher verpflichtet gewesen, das Therapieziel dahingehend zu ändern, dass das Sterben des Patienten durch Beendigung der lebenserhaltenden Maßnahmen zugelassen werde.

Dem Gericht geht es scheinbar ums Prinzip

Der BGH entschied nun:

Dem Kläger [Sohn; Anmerkung des Verfassers] steht kein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes zu. Dabei kann dahinstehen, ob der Beklagte [Hausarzt des Vater; Anmerkung des Verfassers] Pflichten verletzt hat. Denn jedenfalls fehlt es an einem immateriellen Schaden. Hier steht der […] Zustand des Weiterlebens mit krankheitsbedingten Leiden dem […] Tod [gegenüber]. Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen […].

Diese prinzipielle Feststellung des Bundesgerichtshofes klingt bloß klug. Tatsächlich ist sie ein Allgemeinplatz. Dass dem Staat kein Werturteil über das menschliche Leben zusteht, ist eine Einsicht, die in Deutschland aus historischen Gründen in der Tat besonders betont werden muss. Nein, die Staatsgewalt darf niemals (wieder) ein Werturteil dieser Art sprechen. Als „lebensunwert“ haben die Nationalsozialisten viele ihrer Opfer bezeichnet. Sie wollten damit eine scheinbare Rechtfertigung für ihre Morde erreichen. Sich hiervon scharf abzugrenzen ist keine Klugheit, sondern selbstverständlich.

Im vorliegenden Fall aber geht es an der Sache vorbei. Die Antwort des Gerichtes ist keine. Denn das Urteil über das Leben des Patienten hatte kein Dritter gesprochen, sondern der Patient selbst. Dieses Urteil aber schien von den Ärzten nicht befolgt zu werden. Es sieht aus wie ein Winkelzug des Gerichts: Statt den Verstoß gegen den Patientenwillen geltend zu machen, verweist es auf das Argument, es müsse andernfalls indirekt selbst ein Werturteil sprechen. Der Rechtsanwalt des klagenden Sohnes warnte laut Bayerischem Rundfunk vor Urteilsverkündung, eine solche Verweigerung des BGH könnte von Ärzten künftig als „Freifahrtschein“ zur Missachtung des Behandlungswillens verstanden werden.

Letztlich fehlten Beweise für den Patientenwillen

Hat dieser Rechtsanwalt mit seiner Warnung recht? Muss man sich davor fürchten?

Aus ärztlicher Sicht kaum. Denn zu beachten ist: Der BGH hat im vorliegenden Fall letztlich nur über Geld entschieden, nicht aber über die Frage, ob ein Arzt tatsächlich gegen den Willen des Patienten verstieß oder ein Behandlungsfehler vorlag. Das Gericht stellt in seiner Pressemitteilung ausdrücklich fest:

Der Patient hatte keine Patientenverfügung errichtet. Sein Wille hinsichtlich des Einsatzes lebenserhaltender Maßnahmen ließ sich auch nicht anderweitig feststellen. Es war damit nicht über die Fallgestaltung zu entscheiden, dass die künstliche Ernährung gegen den Willen des Betroffenen erfolgte.

Das Gericht lässt also ausdrücklich offen, ob der Arzt im Unrecht war. Dieser Hinweis ist wesentlich, denn er macht klar: Wenn nach diesem Urteil auch nachträglich (!) kein Schmerzensgeld für die Folge des „verlängerten Lebens“ verlangt werden kann, ist damit nicht gesagt, dass Ärzte nicht doch anders zu haften haben, wenn sie nachweislich gegen den Patientenwillen verstoßen. Solche „Haftung“ meint nicht nur die mit Geld, sondern auch die Verantwortung vor einem möglichen Strafgericht. Das ist jedem Arzt überaus bewusst. Der BGH weist nur indirekt nochmals darauf hin und entscheidet dann im vorliegenden Fall nach dem alten Grundsatz: Im Zweifel für das Leben. Zugleich deutet es an: Wenn Patienten diesen Zweifel beseitigen möchten, müssen sie ihren tatsächlichen Willen rechtzeitig festhalten, beispielsweise mit einer Patientenverfügung.

Der BGH drückt sich vor dem eigentlichen Problem

Dieses BGH-Urteil bleibt trotzdem bitter, denn die zentralen Fragen lässt es unbeantwortet:

  1. Wurde das Leben des Patienten tatsächlich gegen seinen Willen verlängert? Haben Ärzte sich über seine Wünsche hinweggesetzt? Das behauptet der Sohn. Der BGH hingegen stellt fest, dass diese Frage nicht ausreichend klar zu beantworten war.
  2. Wenn aber der Beweis fehlt – warum hat der BGH es nicht dabei belassen und den geltend gemachten Schadensersatz mit dem Hinweis abgelehnt, dass unklar blieb, ob überhaupt ein Schaden vorlag? Warum verbietet es ohne Not grundsätzlich jede Überlegung in Richtung eines solchen Schadens, mit dem Hinweis, dass diese Überlegung dem Staat nicht zustünde? Es lenkt mit dem Hinweis auf dieses Tabu von der eigentlichen Frage ab: Steht dem Betroffenen selbst ein solches Urteil über sein Leben zu? Und wenn dem so ist: Welche Folgen hat dieses Recht?

Fazit

Der Grund für das Ausweichen des BGH liegt auf der Hand: Billigt man Patienten zu, ihr Leben als nicht mehr lebenswert einzustufen, folgen daraus unmittelbar schwierige Fragen für Dritte: Wie weit muss ein Gericht dann gehen, wie weit müssen Ärzte gehen, solch ein Eigenurteil des Patienten umzusetzen? Kommen beide am Ende in die Situation, es „vollstrecken“ zu müssen oder Strafen dafür zu verhängen, wenn es missachtet wurde? Würde auf diese Weise das berechtigte Verbot staatlicher Lebensbewertung letztlich ausgehöhlt, weil Gerichte am Ende eben doch Leben bewerten müssten?

Diese Fragen sind schwierig und Antworten auf sie wären in jedem Fall kontrovers. Vor all dem drückt sich der Bundesgerichtshof, wenn er behauptet, auch „leidbehaftetes Leben“ könne grundsätzlich kein Schaden sein. Wer das ernst meinte, der ist töricht und töricht ist dieses Gericht sicher nicht. Es bleibt zu hoffen, dass ein anderer Senat als der sechste in Zukunft mehr Mut findet und sich der Realität des täglichen Leidens vieler Patienten und einer immer noch viel zu oft bevormundenden Medizin stellt. Bis dahin bleibt das Fazit das immer gleiche: Patient, mache rechtzeitig deine Verfügung!

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Paul Brandenburg bei DIPAT Die Patientenverfügung

Ein Beitrag von

Paul Brandenburg

Gründer und Geschäftsführer

Medizinstudium in Berlin und Japan. Forschung und Veröffentlichungen mit mehreren Preisen. Promotion an der Charité mit Auszeichnung durch die wissenschaftliche Fachgesellschaft. Ärztliche Ausbildung an Universitätskliniken in Deutschland und der Schweiz.

Als Facharzt seit 2011 deutschlandweit und international in der Notfall- und Intensivmedizin tätig. KulturSPIEGEL-Bestsellerautor und Publizist zum Gesundheitssystem. Regelmäßiger Gesprächspartner von Medien und Politik.

Zitate und Quellen

1 Bundesgerichtshof [Hrsg.] (2019): Mitteilung der Pressestelle. Bundesgerichtshof entscheidet über Haftung wegen Lebenserhaltung durch künstliche Ernährung. Urteil vom 2. April 2019 – VI ZR 13/18. URL: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&pm_nummer=0040/19 (geprüft am 8. April 2019)

2 Bayerischer Rundfunk [Hrsg.] (2019): BGH zur Arzthaftung: Was das Grundsatzurteil bedeutet.
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